Mitteldeutschland ist in Bewegung: Der beschlossene Kohleausstieg stellt Sachsen-Anhalt und weitere betroffene Bundesländer vor die Herausforderung, einen grundlegenden Strukturwandel einzuleiten. Zudem macht die derzeit grassierende Covid-19-Pandemie ganz aktuell noch einmal deutlich, wie entscheidend es ist, den Wandel durch die Erschließung innovativer Branchen mit lokaler Wertschöpfung aktiv zu gestalten und als Chance für die Zukunft zu nutzen. Aus diesem Grund engagieren sich das Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biologische Prozesse CBP in Leuna und der Cluster BioEconomy in Halle für die Errichtung eines BioEconomy HUB, das junge Unternehmen im Bereich der Bioökonomie fördern soll.
Im Jahr 2038 soll endgültig Schluss sein mit der Braunkohleförderung und -nutzung in Deutschland. So sehen es Kohleausstiegsgesetz und das Strukturstärkungsgesetz der Bundesregierung vor. Die Regionen, die bisher vom Kohletagebau lebten oder stark geprägt waren, stehen somit am Scheideweg. Ein grundsätzlicher Strukturwandel ist unausweichlich, um die Zukunft der betroffenen Bundesländer und Regionen zu sichern. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft sind gemeinsam gefragt, diesen Wandel zu gestalten. Die aktuelle Coronavirus-Pandemie verstärkt hierbei noch einmal den Druck, die Regionen so aufzustellen, dass sie die Herausforderungen der Zukunft meistern können. So hat die Krise deutlich den Bedarf an dezentralen Lösungen zur Stärkung lokaler Wirtschaftskraft aufgezeigt.
Ein entscheidender Faktor, um die Zukunftsfähigkeit der betroffenen Regionen zu garantieren, ist die Stärkung ihrer Innovationskraft. Als besonders erfolgversprechenden Wirtschaftszweig sieht Fraunhofer hier die Bioökonomie. »Die Verknüpfung von Biologie und Biotechnologie mit ressourceneffizienten Verfahren nach dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft trägt nicht nur zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise, sondern durch die Defossilierung von Stoffströmen auch zu mehr Klimaschutz bei«, sagt Dr. Markus Wolperdinger, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB und Sprecher des Strategischen Forschungsfelds Bioökonomie bei Fraunhofer.
Bioökonomie-Standort Leuna stärkt Innovationskraft der Region
Als Teil der Region Mitteldeutschland ist Sachsen-Anhalt eines der vom Strukturwandel stark betroffenen Bundesländer. Gleichzeitig verfügt das Land über ein großes Innovationspotenzial. Ein Beispiel hierfür ist die Chemiebranche des Landes, die im »Chemiedreieck« auch in Leuna zu Hause ist. In Leuna gehen Tradition und Zukunft Hand in Hand: Wo seit über hundert Jahren Chemie erforscht und produziert wird, sichern Initiativen wie die Gründung des Fraunhofer CBP im Jahr 2012 und die Einrichtung des Leistungs- und Transferzentrums Chemie- und Biosystemtechnik sowie der in Halle (Saale) ansässige BioEconomy e.V. die starke Innovationskraft der Region.
»Dass das finnische Unternehmen UPM sich in Leuna ansiedelt, um hier die weltweit erste großindustrielle Bioraffinerie zur chemischen Verarbeitung von Buchenholz zu betreiben, ist vor allem ein Ergebnis der konsequenten Aktivitäten des BioEconomy Clusters – im Zusammenwirken mit Akteuren auf Ebene des Landes und der Kommunen«, verdeutlicht Prof. Dr. Matthias Zscheile, Geschäftsführer der BioEconomy Cluster Management GmbH.
Das Fraunhofer CBP unternimmt nun zusammen mit dem BioEconomy Cluster in Halle einen Vorstoß, um die Bioökonomie als Lösung für die Fragen und Herausforderungen des Strukturwandels zu etablieren. Mithilfe des BioEconomy HUB, eines Technologie- und Dienstleistungszentrums zur Förderung von Unternehmen im Bereich der Bioökonomie, sollen Firmen die in dieser Branche tätig sind oder neu einsteigen unterstützt und somit die Region gestärkt werden. Davon profitieren längerfristig nicht nur einzelne Wirtschaftssektoren − wie die in Sachsen-Anhalt bedeutenden Branchen der Zucker-, Stärke-, Holzwerkstoff- oder Zellstoff-Industrie − sondern auch der Standort Mitteldeutschland als Ganzes.
»Die Bioökonomie ist für Sachsen-Anhalt und den mitteldeutschen Raum eine hochpriorisierte Zukunftsbranche. Unser Ziel ist es, wirtschaftliche Wachstumskerne zu etablieren und neue biobasierte Wertschöpfungsketten – auf dem regional Vorhandenen aufsetzend – weiter auf- und auszubauen«, so Zscheile.
BioEconomy HUB: »Haus für Firmen« am Chemiestandort Leuna geplant
Gemeinsam mit einer wachsenden Zahl von Partnern aus Forschung und Wirtschaft sowie aus der Politik wollen das CBP und der BioEconomy Cluster den BioEconomy HUB am Standort Leuna errichten. Geplant ist ein Neubau in direkter Nachbarschaft zum CBP zur Unterstützung von jungen Firmen und KMU, aber auch Unternehmen der Großindustrie, die ihr Portfolio mit bioökonomischen Geschäftsmodellen erweitern wollen.
»Unternehmer im Bereich der Bioökonomie sehen sich mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, bei denen wir ihnen helfen können«, erklärt Gerd Unkelbach, der Leiter des CBP, einem Standort des Fraunhofer IGB. Besonders problematisch ist laut Unkelbach, dass die Unterstützung zum Anschub für Gründer meist nur über einen Zeitraum von fünf Jahren ausgelegt ist. Danach beginnt eine neue kritische Phase, da die Unternehmen dann oft einen hohen Kapitalbedarf haben und gleichzeitig die Absatzmärkte für ihre Produkte oder Dienstleistungen noch nicht groß genug sind.
»An dieser Stelle setzen wir mit unserem BioEconomy HUB an«, so Unkelbach. »Junge Firmen finden darin nicht nur ein räumliches Zuhause in Form von Büro- und Laborräumen, sondern können auch auf bereits vorhandene Pilotanlagen und etablierte Infrastrukturen, Dienstleistungen und Netzwerke zurückgreifen, die ihnen das Überleben in einer schwierigen Phase ihrer Geschäftsentwicklung sichern können. Das CBP geht dabei als Dienstleister zur Hand, vor allem mit seiner langjährigen Expertise und seinen Kapazitäten im Bereich der Skalierung von Bioraffinerieverfahren oder Prozessen der industriellen Biotechnologie. So begleiten wir Bioökonomie-Unternehmen auf ihrem Weg von der Idee bis hin zum marktreifen Produkt.«
»Am Standort Leuna ist darüber hinaus die Anbindung an die Grundlagenforschung an einer Reihe exzellenter Universitäten und Hochschulen gewährleistet und damit der wissenschaftliche Nachwuchs im Bereich der Bioökonomie gesichert«, ergänzt Prof. Dr. Markus Pietzsch von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Auf diese Weise wird dieser sehr wissens- und kostenintensive Bereich effizient ausgelastet und unnötige Mehrfachstrukturen verhindert, was wiederum zu deutlichen Kosteneinsparungen führt.
»Modellregion nachhaltige Chemie« − Bioökonomie in Mitteldeutschland hat großes Potenzial
Im Zuge der Diskussion der neuen Gesetze zum Kohleausstieg und zur Strukturstärkung der vom Kohleausstieg betroffenen Regionen in Bundestag und Bundesrat am 3. Juli 2020 haben die betroffenen Bundesländer in einer eigenen Erklärung noch einmal die Dringlichkeit und Bedeutung der Strukturkräftigungsmaßnahmen unterstrichen und sich zur Einrichtung des BioEconomy HUB bekannt.
In der bevorstehenden Transformation erkennt der CBP-Leiter eine große Chance. »Durch den Wandel von einer weitgehend auf fossilen Rohstoffen basierenden Wirtschaft zu einer stärker auf erneuerbaren Ressourcen beruhenden, rohstoffeffizienteren und kreislauforientierten Industrie kann sich Mitteldeutschland zu einer ›Modellregion nachhaltige Chemie‹ entwickeln«, beschreibt Unkelbach das Potenzial einer erfolgreichen Strukturstärkung mithilfe der Bioökonomie.
Der geplante BioEconomy HUB soll die Bereitstellung und den projektbezogenen Betrieb von Anlagen zur chemischen und biotechnologischen Konversion von nachwachsenden Rohstoffen inkl. Produktionspersonal an einem zentralen Industriestandort gewährleisten. Damit soll den jungen Unternehmen der Bioökonomie die Möglichkeit geboten werden, in einer »Shared Economy« kleinteilig und doch kostengünstig zu produzieren, um sich auf diese Weise ihre Märkte zu erobern bzw. ihre Technologien bis zur industriellen Reife weiterzuentwickeln.
Darüber hinaus werden langfristige Ziele zur Erweiterung des Standortportfolios verfolgt, um so weitere Großansiedlungen der Bioökonomie anzuziehen und Mitteldeutschland als weltweiten Hotspot der Bioökonomie zu etablieren. »Die Ansiedlung von UPM am Chemiestandort Leuna hat gezeigt, dass unser strategischer Ansatz zur Bildung einer Modellregion der Bioökonomie für Sachsen-Anhalt und den mitteldeutschen Raum richtig ist«, so Zeile.
Derzeit befindet sich die Errichtung des BioEconomy HUB noch in der Konzeptionierungsphase. Im Mittelpunkt der Planungen steht bisher die Kooperation zwischen dem Fraunhofer CBP, dem BioEconomy Cluster und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Partner sind in der regionalen Wirtschaft und Forschungslandschaft bestens vernetzt. »Wir hoffen, dass wir noch zahlreiche weitere Partner mit ins Boot holen können, zum Beispiel weitere Firmen und Hochschulen«, sagt Unkelbach. »Je breiter die Unterstützung ist, die wir erhalten, desto schneller und effizienter wird der Bioeconomy HUB seine Wirkung entfalten«, ergänzt Cluster-Manager Zscheile.
Infokasten: Bioökonomie
Unter Bioökonomie versteht man die wissensbasierte Erzeugung, Erschließung und Nutzung biologischer Ressourcen, Prozesse und Systeme für die Entwicklung von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen. Das Ziel ist eine biobasierte, an natürlichen Stoffkreisläufen orientierte, nachhaltige Wirtschaftsform.
Quelle: www.biooekonomierat.de